Moonshot _ 28
Folsäure Mangel
Weltweit sind etwa 800 Millionen Menschen chronisch unterernährt, vor allem in Südasien und Afrika. Noch weitaus mehr Menschen leiden unter einer anderen Form von Hunger – dem „verborgenen Hunger“. So nennen Ärzte eine Mangelerscheinung, die nicht direkt mit Hungerqualen einhergeht, oft nicht einmal mit Untergewicht. Trotzdem sind ihre Auswirkungen auf die Betroffenen gravierend. Etwa zwei Milliarden Menschen, so die Schätzungen, leiden unter einem Mangel an Mikronährstoffen. Grund kann der fehlende Zugang zu nährstoffreichen Lebensmitteln sein, aber auch das Ernährungsverhalten.
Das Phänomen des verborgenen Hungers existiert auch in Europa: Rund 80 Prozent der Europäer sind nicht ausreichend mit dem Vitamin Folsäure versorgt. Die gesundheitlichen Konsequenzen sind erschreckend: Allein in Deutschland sind jedes Jahr etwa 800 Neugeborene vom Neuralrohrdefekt betroffen, einer stark ausgeprägten Fehlbildung der Wirbelsäule. Ursache ist die mangelhafte Versorgung mit Folsäure der Mütter. Eine Vitaminanreicherung des Grundnahrungsmittels Mehl könnte dieses Problem reduzieren. Aber obwohl eine Umsetzung seit Jahrzehnten diskutiert wird, ist eine gesetzliche Lösung bis heute nicht in Sicht.
„Menschenwürde und Grundrecht sollten bereits dem ungeborenen Leben von Anbeginn seiner Existenz an zukommen.“
Prof. Dr. med. Dieter Großklaus, BgVV, 8. Mai 2000
Grundrechte des ungeborenen Lebens
Der 8. Mai 2000 ist kein Datum von offizieller Bedeutung – obwohl an diesem Tag in Berlin über die Unversehrtheit ungeborenen Lebens entschieden wurde. In einer Tagung wollte das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) den Sachstand bezüglich der Anreicherung von Mehl mit dem Vitamin Folsäure feststellen. Sämtliche relevanten Interessenvertreter waren anwesend, um zu diesem umstrittenen Thema Position zu beziehen. Der damalige Präsident des BgVV, Prof. Dr. med. Dieter Großklaus, eröffnete die Tagung mit einem starken Statement: „Menschenwürde und Grundrecht sollten bereits dem ungeborenen Leben von Anbeginn seiner Existenz an zukommen.“
Die medizinische Notwendigkeit von Folat
Es folgte die Position der Mediziner. Für Prof. Dr. med. Berthold Koletzko vom Haunerschen Kinderspital der Universität München war die Sachlage klar: Folat ist besonders in der Schwangerschaft wichtig für eine gesunde Entwicklung des Ungeborenen – und das bereits ab dem Zeitpunkt der Empfängnis. Fehlt Folat, kann es zur Ausbildung von Neuralrohrdefekten kommen. Fehl- oder Totgeburten sind häufig die Folge, ebenso schwerste Behinderungen, wie Querschnittslähmung oder Wasserkopf. Der Ärztevertreter sprach sich angesichts der positiven Erfahrung im Ausland für eine Anreicherung von Mehl mit Folsäure aus.
Mehlanreicherung? Kein Problem.
Als nächstes sprachen die Müller. Ein Vertreter des Verbands Deutscher Mühlen (VDM) erklärte, dass eine Anreicherung von Mehl mit Folsäure ohne Probleme machbar sei. Man füge dem Mehl per Mikrodosierung schließlich auch tagtäglich Ascorbinsäure (Vitamin C) hinzu. Die Kosten eines solchen Folsäure-Zusatzes seien kein nennenswerter Faktor. Der finanzielle Aufwand für die Vitamin-C-Anreicherung der gesamten deutschen Mehlmenge betrüge lediglich DM 100.000 (ca. Euro 50.000) pro Jahr.
Kein Vitamin-Zusatz in Grundnahrungsmitteln
Dann machte die Debatte eine Kehrtwende. Der Vertreter der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) sah die Mehl-Anreicherung kritisch. Das Argument: Da nur eine verschwindend kleine Minderheit von rund einem Promille aller schwangeren Frauen betroffen sei, könne eine Zwangsanreicherung für alle nicht akzeptiert werden. Die AgV empfahl stattdessen, dass betroffene Frauen Folsäuretabletten schlucken und Frauenärzte besser aufklären sollten. Und der Verbandsvertreter schob gleich noch eine Warnung nach: Sollten die Mühlen ihr Mehl dennoch mit Folsäure anreichern, würde die AgV dagegen vorgehen.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) schloss sich dieser Position an. Die notwendige Tagesaufnahme an Folat (400µg/Tag) könne über eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst und Gemüse erreicht werden. Man sei außerdem in der Vorbereitung einer neuen „5-am-Tag“-Kampagne, die den Verzehr von 5 Portionen Obst und Gemüse forcieren würde. Gegenüber einer Vitamin-Anreicherung von Grundnahrungsmitteln habe die DGE dagegen große Bedenken.
20 verschwendete Jahre
Ein Konsens wurde auf der Berliner Tagung im Mai 2000 nicht erreicht. Mittlerweile sind rund 20 Jahre vergangen – und keine Voraussage der Anreicherungs-Skeptiker ist seitdem eingetreten: Der Obst- und Gemüseverzehr konnte nicht gesteigert werden und Frauen werden immer noch nicht besser über die präventive Einnahme des Vitamins Folsäure aufgeklärt. Stattdessen wurden in diesem Zeitraum allein in Deutschland über 15.000 schwer missgebildete Kinder geboren.
Aber es gibt neue Hoffnung: In den vergangenen Jahren konnten auch zahlreiche weitere Daten zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit einer Folsäureanreicherung gesammelt werden. Und andere Länder machen es vor: Seit helles Weizenmehl in den USA und Kanada per Gesetz mit Folsäure angereichert wird, ist die Anzahl der Neuralrohrdefekte in diesen Ländern signifikant gesunken. In Deutschland ist die unkomplizierte Versorgung der Menschen mit Folsäure über eine Mehl-Anreicherung nach wie vor kein technisches Problem, sondern ein politisches und gesellschaftliches.
Auswirkungen von Folsäuremangel
Folsäure und deren Salze, die Folate, sind an der Zellteilung, an Wachstumsprozessen und am Proteinstoffwechsel beteiligt. Ein Mangel an Folsäure im Blut werdender Mütter kann zu schweren Entwicklungsstörungen des Fötus führen. Folgen können verminderte geistige Leistungsfähigkeit sein, schwere körperliche Fehlbildungen (insbesondere Neuralrohrdefekte) oder sogar der Tod des Un- oder Neugeborenen.
In Europa leidet etwa eines von 1.000 Neugeborenen an einem Neuralrohrdefekt, einer stark ausgeprägten Fehlbildung der Wirbelsäule in Folge von Folsäuremangel. Vorzeitig abgetriebene Föten sind in dieser Zahl nicht erfasst. Von den betroffenen Babys überleben etwa zwei Drittel. Ein Viertel von ihnen ist jedoch so schwer beeinträchtigt, dass sie innerhalb eines Monats sterben (Abb. 1). Bei den überlebenden Neugeborenen mit Neuralrohrdefekten sind Lebenserwartung und Lebensqualität zum Teil drastisch reduziert.

Mütter und Väter betroffen
Allerdings scheint ein Folsäure-Defizit nicht allein bei werdenden Müttern zum Risikofaktor für die Entwicklung des ungeborenen Lebens zu werden. Es gibt auch erste Hinweise darauf, dass sich bei Männern aufgrund von Folsäuremangel die Chromosomenzahl des Spermas verändert. Mögliche Folgen sind Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten oder Entwicklungsstörungen – beispielweise durch das Down-Syndrom, das Turner-Syndrom oder das Klinefelter-Syndrom.
Auf Unbeteiligte wirken diese Szenarien vielleicht abstrakt und fern. Für die Betroffenen bedeuten sie eine drastische Verminderung der Lebensqualität, die mit einfachen Mitteln vermeidbar gewesen wäre. Mittelbar betroffen sind wir übrigens am Ende alle: indem wir als Solidargemeinschaft den erheblichen finanziellen Aufwand mittragen, mit dem den Erkrankten das Überleben ermöglicht und das Leben erleichtert werden muss.
Folat, Folsäure und das Folat-Äquivalent
Das in unserer Nahrung enthaltene Vitamin Folat kann vom menschlichen Körper weitaus schlechter aufgenommen werden als die synthetisch hergestellte Folsäure. Während Folsäure zu fast 100 Prozent verwertbar ist, liegt das Folat aus der Nahrung lediglich bei etwa 50 Prozent Verwertbarkeit. Diesen Unterschied berücksichtigt man bei der Berechnung der Vitaminversorgung, indem man ein Folat-Äquivalent bildet: Dabei entspricht 1 Mikrogramm (µg) Folat-Äquivalent 1 µg Folat und 0,5 µg Folsäure.
Folat ist das Hauptmangelvitamin in Europa. Während eine Aufnahme von 400 µg Folat pro Tag empfohlen wird, liegt die durchschnittliche Versorgung der Frauen bei etwa 240 µg Folat-Äquivalenten. Männer erreichen immerhin noch knapp 300 µg. Europaweit sind sich Experten einig, dass es für den durchschnittlichen Menschen schwierig bis unmöglich ist, die empfohlene Aufnahme von 400 µg Folat allein über die Nahrung zu erreichen.
Um die Versorgung zu verbessern, empfehlen Ernährungswissenschaftler den Verzehr von Lebensmitteln mit einem hohen natürlichen Folat-Gehalt. Allerdings waren solche empfohlenen Nahrungsumstellungen in der Praxis bisher nie erfolgreich. Bestes Beispiel ist die Initiative „5-am-Tag“, die den Verzehr von folatreichem Obst und Gemüse steigern sollte, aber ihr Ziel trotz millionenschwerer Werbekampagnen und einer beispiellosen Medienoffensive bisher nicht erreichen konnte.
Folsäure im Mehl: ein Politikum
Nüchtern betrachtet liegt die Lösung auf der Hand: Eine ausreichende Versorgung mit dem Vitamin Folsäure kann nur durch folsäurereiche Nahrungsergänzungsmittel oder entsprechend angereicherte Lebensmitteln sichergestellt werden. In 81 Ländern der Erde ist die Anreicherung von Mehl sogar gesetzlich vorgeschrieben. Dabei wird dem hellen Weizenmehl in der Regel Folsäure und teilweise auch Eisen zugefügt. Vollkornmehl wird nicht angereichert, da es von Natur aus mehr Vitamine und Mineralstoffe enthält.
Viele Ernährungswissenschaftler üben aus ideologischen Gründen Kritik: Sie sehen es als ihren erzieherischen Auftrag, den Menschen beizubringen, sich mit möglichst ursprünglichen Lebensmitteln aus der Natur gesund zu ernähren. Industrielle Lebensmittel mit hohem Convenience-Grad haben in diesem Weltbild keinen Platz. Noch schlimmer, wenn diese geschmähten Lebensmittel plötzlich gesünder sein sollen als der frisch vom Baum gepflückte Apfel.
Auch viele Verbraucherverbände sind erklärte Gegner einer Mehlanreicherung und führen dafür teils hanebüchene Argumente an. Zum Beispiel beeinträchtige eine „Zwangsanreicherung“ nach dem Gießkannenprinzip das Grundrecht auf Selbstbestimmung. Das erscheint in höchster Weise zynisch, da das Recht der Ungeborenen auf körperliche Unversehrtheit dabei überhaupt keine Rolle zu spielen scheint. Darüber hinaus wäre dieses Problem eigentlich gar keins, wenn man beim Mehl einfach wie beim Salz vorginge: Salz wird in vielen Ländern mit dem Zusatz von Jod und Fluor ist angeboten – und direkt daneben steht eine nicht angereicherte Variante im Regal.
Internationale Erfolge
In den USA und Kanada (140 µg Folsäure pro 100 g Mehl), Chile (220 µg) und Ungarn (160 µg) ist die Anreicherung von Mehl mit Folsäure bereits gesetzlich vorgeschrieben. In Irland und Australien diskutieren die Experten derzeit über eine obligatorische Anreicherung von Brot. Die Häufigkeit von Neuralrohrdefekten bei Neugeborenen ist nach der Einführung von angereichertem Mehl in den USA und einigen mittelamerikanischen Ländern um 20 bis 50 Prozent gesunken (Abb. 2). Und das, obwohl das derzeitige Verhältnis von Folsäure zu Mehl noch weit unter einer optimalen, aus medizinischer Sicht wünschenswerten Dosierung liegt.

DGE befürwortet Folsäure im Mehl
In einem am 19.10.2006 veröffentlichten Positionspapier spricht sich die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) für eine flächendeckende Folsäureanreicherung von Mehl aus. Die Experten schlagen vor, den so genannten Bäckermehlen (Type 550 und 630) 150 µg Folsäure pro 100 g Mehl zuzusetzen. Pro Tag werde damit eine zusätzliche durchschnittliche Aufnahme von 135 µg bei Männern und 106 µg bei Frauen erreicht. Die damit verbundenen Risiken hält die DGE gegenüber den zu erwartenden gesundheitlichen Vorteilen für vernachlässigbar:
„Die Verbesserung der Folatversorgung der Bevölkerung kann durch einen vermehrten Verzehr von natürlicherweise folatreichen Lebensmitteln entsprechend den Empfehlungen der DGE erreicht werden. In Anbetracht der derzeitigen Ernährungs- und Lebensgewohnheiten ist dies für den größeren Teil der Bevölkerung höchstens mittel- bis langfristig zu erwarten.
Unter Berücksichtigung von Nutzen und Risiken verschiedener Strategien zur Verbesserung der Folatversorgung der Bevölkerung (vermehrte Aufnahme folatreicher Lebensmittel bzw. synthetischer Folsäure aus angereicherten Grundlebensmitteln oder Nahrungsergänzungsmitteln) spricht sich die DGE für eine Anreicherung von Mehl mit Folsäure aus.“
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