Moonshot _ 17
Weizen-unverträglichkeit
Die Diskussion um Getreide hat mittlerweile Ausmaße angenommen, die selbst langjährige Branchenkenner überrascht. Die Auseinandersetzung darüber, ob man heutzutage noch Weizen essen sollte, wird in bestimmten Kreisen mindestens so intensiv und emotional geführt wie die Debatte zwischen Fleischessern und Vegetariern bzw. Veganern. Dabei wird immer wieder behauptet, dass insbesondere das Gluten des Weizens giftig sei und dass man Weizenprodukte deshalb niemals essen solle. Wenn man zur kleinen Gruppe der Menschen gehört, die unter Zöliakie leidet, dann stimmt das tatsächlich. Allerdings sind auch viele Nicht-Zöliakie-Kranke der festen Überzeugung, sie vertrügen keinen Weizen. In Nordamerika hat die Verunsicherung rund um dieses Thema schon hysterische Züge angenommen und sogar zu Werkschließungen großer Bäckereien geführt. Wie gehen wir also mit dem Problem der Unverträglichkeit um? Und was bedeutet das für die Zukunft der Getreideprodukte?
“Es setzt sich zunehmend die wissenschaftliche Meinung durch, dass uns der Verzehr von US-amerikanischem Weizen fett, kränklich und möglicherweise verrückt machen könnte.“
Steven Magee
Wurst non grata
Wenn man sich die gegenwärtige Diskussion über die Umweltschädlichkeit von Fleisch anschaut, ist es im Bereich der pflanzlichen Lebensmittel noch vergleichsweise ruhig. „Die Wurst ist die Zigarette der Zukunft“, sagt Christian Rauffus, Inhaber des Wurstherstellers Rügenwalder Mühle. Aus der Überzeugung heraus, dass Fleischprodukte zunehmend mit schlechtem Image zu kämpfen haben werden, hat Rauffus schon frühzeitig nach Auswegen aus dieser Misere gesucht – und ist mit Rügenwalder mittlerweile Pionier im Bereich der vegetarischen Fleischwaren. Können sich die Weizen-Müller davon etwas abgucken?
Amerikanischer Gluten-Wahn
Im Jahr 2015 war über ein Drittel der Amerikaner davon überzeugt, auf glutenhaltige Lebensmittel verzichten zu müssen. Die Hersteller glutenfreier Lebensmitteln kamen mit der Produktion nicht mehr nach. Der in Kalifornien lebende Schauspieler Ryan Reynolds nahm die Situation mit Humor: “Die Menschen in LA haben dermaßen panische Angst vor Gluten – hier könnte man nur mit einem Bagel in der Hand einen Schnapsladen ausrauben.“ Erst als erste wissenschaftliche Studien zeigten, dass die glutenfreie Ernährung zu mehr Herzinfarkten und anderen Krankheiten führt, ebbte der Gluten-Wahn etwas ab. Dennoch stehen Gluten und Weizen nach wie vor bei vielen Amerikanern auf der roten Liste.
Weizen-Yin und Weizen-Yang
Die fernöstliche Yin-Yang-Philosophie kann helfen, die eigene Position innerhalb der bestehenden Ungewissheit zu finden. Basis des Yin-Yang-Prinzips ist der Gedanke, dass nichts auf der Welt absolut ist und für sich alleine stehen kann. Alles braucht einen Gegenpol: Gutes kann es nur geben, wenn auch Schlechtes existiert. Also steht auch bei der Bewertung von Getreideprodukten das Gute (Yang) dem Schlechten (Yin) gegenüber. Dabei ist im Guten immer auch das Schlechte zu finden und umgekehrt (Abb. 1). Sind Weizen-Yin und Weizen-Yang im Gleichgewicht, ist für einen Weizen-Müller die Welt eigentlich in Ordnung.

Meinungsmacher im Netz
Doch das gewünschte Gleichgewicht verschiebt sich zusehends. Musste man sich früher für einen Job in der Waffenindustrie oder bei Zigarettenkonzernen rechtfertigen, werden heute Mühlen-Angestellte von Extremisten beschimpft, weil sie angeblich mitverantwortlich für den Tod von Menschen sind. Angeheizt werden diese extremen Meinungen von Food Bloggern, Bestseller-Autoren und Medien, die diese Botschaften oft kritiklos übernehmen.
In den USA unterscheidet man drei Typen von Konsumenten: die allgemeine Bevölkerung, die Lebensmittel-Interessierten und die Lebensmittel-E-vangelisten („food e-vangelists“). Wie die christlichen Evangelisten verkünden auch sie eine Botschaft, von der sie zutiefst überzeugt sind – heutzutage allerdings meist über das Internet. Die Blogs und Websites dieser so genannten „Health Angels“ verzeichnen monatlich Besucherzahlen im zweistelligen Millionenbereich – und vor dieser geballten Meinungsmacht fürchten sich ganze Industriebranchen in den USA.
Die Weizen-Warner
Wenn die Bloggerin Katie Wells („Wellness Mama – simple answers for healthier families“) öffentlichkeitswirksam propagiert, „Wie Getreide euch langsam tötet“ (Abb. 2), dann hat das eine Auswirkung. Denn Wellness Mama ist nicht nur ein emotional überzeugender Absender, sondern hat auch eine glaubwürdige Mission: „Ich bin eine Mutter mit einem Auftrag: EUCH dabei zu unterstützen, eure Familie nahrhaft zu ernähren und ihr zu einer gesunden Lebensweise zu verhelfen – auch mit wenig Geld.“


Unwissenschaftliche Anklagen
Natürlich haben angesehene Ernährungswissenschaftler sachliche Kritik an den weizenkritischen Artikeln und Büchern der Blogger und Bestseller-Autoren geübt. Aber diese Stimmen gehen in der Regel im lautstarken Mediengetöse unter. Dennoch zeigt es in manchen Fällen tatsächlich Wirkung, wenn die Fachwelt die Argumente der falschen Propheten widerlegt und als unwissenschaftlich entlarvt. So hat ‚Wellness Mama’ ihren „Wie Getreide euch langsam tötet“-Blog-Beitrag nach neun Jahren nicht nur überarbeitet, sondern gleich komplett neu geschrieben. Unter der neuen Headline: „Das wirkliche Problem mit Getreide“ (Abb. 4) findet man jetzt etwas moderatere Argumente gegen den Verzehr von Weizen.

Dabei hat Wellness Mama auch Argumente von der Bloggerin Sarah Pope übernommen, die nicht mehr das Gluten als gesundheitliche Bedrohung ausgemacht hat, sondern stattdessen den Glyphosat-Einsatz in der Landwirtschaft kritisiert: “Warum Weizen wirklich giftig ist (Es ist nicht das Gluten)”. Mit Hilfe einer eindrucksvollen Grafik behauptet Sarah Pope eine Korrelation zwischen dem Einsatz von Glyphosat auf Weizenfeldern und dem Auftreten von Zöliakie (Abb. 5). Dabei wird großzügig übersehen, dass eine Korrelation noch keine Kausalität nachweist. Darüber hinaus widerspricht dieser angedeutete ursächliche Zusammenhang sämtlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Diese Art der Argumentation macht den Eindruck, als ginge es den Weizenkritikern weniger um sachlich korrekte Information, als vielmehr um das Verbreiten schlechter Nachrichten.

Die Käse-Bettwäsche-Korrelation
Dem Wissenschaftler Tyler Vigen sind solche unsinnigen Korrelationen, die keine Kausalität belegen, schon lange ein Dorn im Auge. Als nicht ganz wissenschaftliche Reaktion baute er eine Datenbank der verschiedensten öffentlich zugängigen Zeitreihen auf und stellte absurde Korrelationen her.[3] Seine Lieblingskorrelationen hat Tyler Vigen sogar in einem Buch veröffentlicht.[4] So hat er beispielsweise herausgefunden, dass der Pro-Kopf-Käsekonsum mit der Anzahl der Menschen korreliert, die durch Verheddern in ihrer Bettwäsche gestorben sind (Abb. 6). Der Korrelationskoeffizient ist mit 94,7% absolut überzeugend. Süße Träume sind offensichtlich nicht aus Käse.

Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten
Die meisten Medienschaffenden scheinen nach dem Motto zu handeln, dass sich schlechte Nachrichten besser verkaufen als gute. Tatsächlich zeigte eine Studie, dass die durchschnittliche Klickrate von Nachrichten um 63 Prozent höher lag, wenn in der Überschrift negative Superlative verwendet wurden.[5] Neurowissenschaftliche Studien legen nahe, dass das menschliche Gehirn als Teil eines primitiven Überlebensmechanismus empfindlicher und stärker auf negative Nachrichten reagiert.[6] Laut der Forscher setzt die Amygdala etwa zwei Drittel ihrer Neuronen ein, um nach schlechten Nachrichten zu suchen. Darüber hinaus würden negative Ereignisse deutlich schneller im Langzeitgedächtnis abgespeichert als positive.[7] Schlechte Nachrichten wirken auf die Menschen also tatsächlich besonders anziehend und sorgen für mehr Aufmerksamkeit und hohe Klickzahlen.
Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Die Studien belegen, dass viele Menschen trotz der allgemeinen Tendenz zur Negativberichterstattung von positiven Nachrichten stärker angezogen werden als von schlechten. Laut der Forscher sei diese Erkenntnis auch als Auftrag zu verstehen, guten Nachrichten mehr Raum zu geben. Bezogen auf das Thema Gluten stellt sich also die Frage: Welche guten Nachrichten haben wir für Menschen, die wirklich unter einer Weizenunverträglichkeit leiden? Und welche innovativen Produkte können wir ihnen anbieten?
[1] https://wellnessmama.com/575/problem-with-grains/, Blog-Beitrag vom 27. Sept. 2010
[2] https://www.thehealthyhomeeconomist.com/real-reason-for-toxic-wheat-its-not-gluten/
[3] Die Datenbank ist für jeden Menschen online zugänglich, damit man selber unsinnige, aber lustige Korrelationen finden kann: https://tylervigen.com/discover
[4] Tyler Vigen, Spurious Correlations, 2015. Datenquellen: U.S. Department of Agriculture, Economic Research Service; Centers for Disease Control & Prevention, Detailed Mortality Data; National Institutes of Health, Genetics Home Reference
[5] https://www.business2community.com/blogging/new-outbrain-study-says-negative-headlines-better-positive-0810707
[6] https://www.miuc.org/brain-love-negativity-negativity-bias/
[7] https://www.psycom.net/negativity-bias
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