Moonshot _ 16

Ursprünglicher Geschmack

Auch dank standardisierter Produktion und industrialisierter Verarbeitung steht uns heute so gut wie jedes Lebensmittel in guter bis sehr guter Qualität und zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung. Aber inmitten dieses Ernährungs-Luxus’ vermissen wir etwas: Wir sehnen uns nach traditionellem, authentischem Geschmack, der im Laufe der Zeit verloren gegangen ist. In Museumsdörfern kann man einige dieser ursprünglichen kulinarischen Erlebnisse wiederentdecken: wenn altgediente Handwerker aus Milchrahm Fassbutter herstellen und sie anschließend auf eine noch warme Scheibe Bauernbrot aus dem lodernden Holzofen streichen. Tief in unseren Herzen sehnen wir uns nach diesem Glücksgefühl, das der ursprüngliche Geschmack der guten alten Zeit in uns hervorruft.

“Der Geruch des Brotes ist der Duft aller Düfte. Es ist der Urduft unseres irdischen Lebens, der Duft der Harmonie, des Friedens und der Heimat.“

Jaroslav Seifert (1901– 86), Tschechischer Literaturnobelpreisträger

Dimensionen des Handwerks

In Deutschland gibt es mehr als 130 Handwerksberufe, aber nicht alle entwickeln sich gleich. Während einige aussterben, wachsen andere in moderne Märkte hinein und erfinden sich neu. Dabei hat das Handwerk neben seiner wirtschaftlichen Bedeutung sowohl eine spirituelle Dimension, die den Menschen in seinem Innersten berührt, als auch eine kulturelle Ebene, die mit der Bedeutung des Handwerks für unsere Kultur und unsere Gesellschaft zu tun hat.

 

Spirituell: Arbeit als Selbstbildung

Der österreichische Drechsler Sepp Viehauser sprach Anfang der 1990er Jahre in einem Interview über die Essenz seiner Erfahrung, die Essenz seines Lebens und die Essenz des Handwerks:[1]

„Handwerk ist für mich eine Haltung, eine Lebensform. (…) Für meine persönliche Entwicklung steht mir das Bild der Pyramide vor Augen. Die Spitze der Pyramide ist der ‘Gipfel‘, die Qualität, nach der ich persönlich mit meiner Arbeit ein Leben lang gestrebt habe. Die Grenzen der Pyramide stehen für die Erfahrungen, die ich in der Auseinandersetzung mit der Realität machen durfte. Diese Auseinandersetzungen sind mühevoll, doch erst sie ermöglichen meine Entwicklung. Die Auseinandersetzung mit dem Material (…) ist für jeden Handwerker stets eine Prüfung mit der Chance des Scheiterns. Er wird dabei an die Grenzen seiner Möglichkeiten zurückverwiesen und damit auf sich selbst. In diesem Sinne ist Handwerk (…) Bildung im eigentlichen Sinne.“

Der spirituelle Aspekt klingt bereits durch. In der handwerklichen Arbeit fand Viehauser seinen persönlichen Weg zur Vervollkommnung. Arbeit ist für ihn ein Prozess, der das eigene Selbst bildet. Der Gedanke, dass die Handlung des Arbeitens gleichzeitig bereits der Lohn der Arbeit ist, wird von Aristoteles, dem Heiligen Benedikt und zahlreichen Philosophen ebenso geteilt wie von vielen Wirtschaftswissenschaftlern.

 

Kulturell: Gefährdetes Erbe

Handwerk ist auch ein kollektives Gut und ein wichtiger Teil unserer Kultur. Handwerkliches Wissen und Können wurde über Jahrhunderte von Generation zu Generation weitergegeben und weiterentwickelt. Handwerker waren die Ingenieure der Vergangenheit. Bis ins 19. Jahrhundert hatte der technische Fortschritt seinen Ursprung in den Werkstätten des Handwerks. Damit dieses kulturelle Vermögen nicht verloren geht, muss es zuverlässig weitergegeben und sorgsam bewahrt werden. Trotzdem sind wir gerade dabei, diesen Teil unseres kulturellen Erbes zu verspielen – als Folge des Strukturwandels und als Folge von Standardisierung, Arbeitsteilung und Überbewertung der Technik.

 

Typologie der Handwerker

Man kann Handwerk in drei alternativen Ausprägungen leben: als Handwerker, Künstler oder Unternehmer. Ganz gleich, welchen dieser Wege man beschreitet: Alle drei können die Menschen glücklich machen – vorausgesetzt, man folgt dem eigenen Herzen.[2]

 

Typ 1: der Handwerker(-Handwerker)

Er macht eine Sache um ihrer selbst willen gut und findet Glück, Befriedigung und Sinn darin. Unternehmensberater fürchten diesen Typ als Unternehmer, da er nicht vorrangig wirtschaftliche Ziele verfolgt. Den Handwerker(-Handwerker) charakterisiert ein hohes Arbeitsethos. Er legt all sein Können, seine geistigen und körperlichen Energien kompromisslos in die Sache selbst und geht in seiner Arbeit auf. Er schaut nicht auf die Uhr, denn die Uhr ist der Feind des guten Werks. Nichts ist für ihn schmerzhafter als Kunden, die die Qualität seiner Arbeit weder verstehen noch wertschätzen.

 

Typ 2: der Künstler(-Handwerker)

Er beherrscht sein Handwerk meisterhaft, hasst Routine und braucht Abwechslung. Als Angestellter ist er schwierig. Denn die ästhetischen und kreativen Aspekte seiner Arbeit stehen jederzeit im Vordergrund. Das Ergebnis seiner Arbeit muss immer wieder überraschend sein – am besten ein Kunstwerk. Der Künstler(-Handwerker) ist der Erfinder unter den Handwerkern und immer unterwegs zur nächsten Stufe seiner Kunst und zum neuen Werk. Als Motor für Innovationen ist er unverzichtbar.

 

Typ 3: der Unternehmer(-Handwerker)

Er kann neben einem großen wirtschaftlichen Verständnis auch Charakterzüge des Künstlers oder des Handwerkers aufweisen. Die Kombination Künstler-Unternehmer wird mit Sicherheit große wirtschaftliche Erfolge feiern können. Vorausgesetzt, die handwerkliche Qualität wird nicht vom Gewinnstreben in den Hintergrund gedrängt und dem Handwerk wird Liebe und Respekt entgegengebracht. Denn nichts schadet dem Handwerk mehr, als Betriebe mit einer traditionell-handwerklichen Fassade, die tatsächlich nur mittelmäßige, industriell gefertigte Produkte verkaufen. Durch „Handwerker“ dieser Art werden nicht nur Kunden getäuscht, es geht auch immer mehr wertvolle Handwerkskultur verloren.

 

Die neuen Handwerker

Aktuell scheint es wieder so, als arbeite die Zeit für das Prinzip Handwerk. Denn immer mehr Männer und Frauen verstehen sich wieder als Vollbluthandwerker, die ihren Beruf mit handwerklicher und künstlerischer Leidenschaft ausüben, die ihn jeden Tag neu erfinden und immer wieder neue Maßstäbe setzen. Diese neuen Handwerker verarbeiten ausschließlich Rohstoffe bekannter Herkunft und interessieren sich nicht nur für die Kalkulation ihrer Produkte, sondern auch für deren Bedeutung für das Leben. Sie sind sich der Tatsache bewusst, dass sie mit ihrer handwerklichen Arbeit Natur in Kultur umwandeln. Mit dieser Haltung bedienen sie sehr erfolgreich eine Kundschaft, die sich nach echtem Handwerk sehnt.

 

Handwerk als Chance

Natürlich ist es gut, wenn die neuen Handwerker in der Ausbildung auch das Rüstzeug des Unternehmers lernen. Allerdings könnten Kostenkalkulationen zur Not auch von externen Experten übernommen werden. In erster Linie brauchen wir Menschen, die ihr Handwerk lieben – damit dieser über alle Maßen wertvolle Aspekt unserer Kultur nicht verloren geht. Die unterschiedlichen Bereiche des Handwerks bieten viel Freiheit und erlauben jedem, seinen Weg zu gehen, sich selber zu finden und damit gutes Geld zu verdienen. Das Handwerk bietet vielen Menschen die Chance, ihre individuellen Fähigkeiten zu entdecken und bestmöglich zu entfalten. Im Lebensmittel-Bereich gehen z. B. Müller und Bäcker seit Jahrtausenden eine fruchtbare Symbiose ein. Welche innovativen Rohstoffe können wir modernen Bäckern anbieten, damit sie die Verbrauchererwartung voll erfüllen können?

 

[1] „Wenn einer einen inneren Plan hat“, Interview mit Sepp Viehauser, in: Christine Ax (Hrsg.), Werkstatt für Nachhaltigkeit, Politische Ökologie, Sonderheft Nr. 9, München 1997

[2] Christine Ax, Referat, BÄKO-Workshop, Hamburg 2009

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