Moonshot _ 07

Comeback der Ballaststoffe

Ballaststoffe sind die Verlierer der Industrialisierung. Wurden vor 10.000 Jahren noch täglich 100g Ballaststoffe pro Kopf verzehrt, sind es heute im europäischen Durchschnitt lediglich 20-25g. Das ist zwar nicht allzu weit von den 30g entfernt, die Ernährungswissenschaftler heute als tägliche Aufnahme empfehlen. Aber der Verdacht liegt nahe, dass sich diese niedrige Empfehlung nicht am größtmöglichen gesundheitlichen Nutzen orientiert, sondern eher an dem, was man in Zeiten der industriell verarbeiteten Lebensmittel für realistisch hält.

Ballaststoffe haben einfach keine Lobby. Das zeigt auch ihr Preis: Heute verkaufen die Mühlen Kleie zu einem Bruchteil des Preises, den sie für das raffinierte helle Mehl erzielen. Wichtigster Abnehmer dieser Kleie ist die Tierfutterindustrie – und die sieht das wertvolle Abfallprodukt nicht als Ballaststoff-Lieferant, sondern als Hilfsmittel zur Tiermast. Denn dank der proteinreichen Kleie erreichen ihre Tiere sehr preiswert und schnell ihr Schlachtgewicht.

Doch es gibt Hoffnung: Neue revolutionäre Forschungen zeigen, dass Ballaststoffe nicht nur das Leben verlängern können, sondern als Psychobiotika auch Volkskrankheiten wie Demenz und Alzheimer vorbeugen und sogar verhindern können. Ballaststoffe sind also wahre Superfoods und das ideale Futter für unser zweites ich: das Mikrobiom. Höchste Zeit, dass wir ihnen zu einem glanzvollen Comeback verhelfen.

“Dein Freund hatte einen Traum über Kartoffeln und ich soll ihn deuten? Ich bin zwar alt, aber das bedeutet nicht, dass ich alles weiß. Alt sein bedeutet, dass man genug Ballaststoffe gegessen hat.“

Jonathan Carroll

Lückenhafte Nährwertkennzeichnung

Wenn Menschen auf bestimmte Nährstoffe achten wollen oder müssen, ist die Nährwertkennzeichnung eine wichtige Orientierung beim Lebensmittelkauf. Ihre korrekte Form regelt die EU-Lebensmittelinformationsverordnung (Verordnung (EU) Nr. 1169/2011). Sie schreibt unter anderem vor, dass die sieben wichtigsten Nährwerte auf nahezu allen verpackten Lebensmitteln gekennzeichnet werden müssen: Brennwert/Energiegehalt, Fett, gesättigte Fettsäuren, Kohlenhydrate, Zucker, Eiweiß und Salz.

Ballaststoffe fehlen in dieser Auflistung. Sie müssen – wie auch Vitamine und Mineralstoffe – nur aufgelistet werden, wenn sie als Produktversprechen besonders herausgestellt werden. Das Ergebnis dieser Regelung: Ballaststoffe sind in der Nährwertkennzeichnung leider nur äußerst selten vertreten. Damit hat sich die EU übrigens für eine Insellösung entschieden. Denn obwohl es sich bei Ballaststoffen um Kohlenhydrate handelt, werden sie in der EU – anders als beispielsweise in den USA – nicht so aufgefasst und auch nicht korrekt in der Nährwerttabelle angegeben.

 

NUTRI-SCORE als Heilsbringer?

Damit auf den ersten Blick erkennbar wird, ob ein Produkt gesund oder ungesund ist, will die deutsche Politik jetzt das aus Frankreich stammende NUTRI-SCORE-System übernehmen. Hier spielen Ballaststoffe plötzlich wieder eine wichtige Rolle. Denn sie werden – wie u. a. auch Eiweiß – als ein für die Gesundheit eher günstiger Inhaltsstoff mit eher ungünstigen Inhaltstoffen verrechnet – z. B. Zucker, Fett und Salz. Daraus ergibt sich ein Gesamtscore, der in eine farbliche und mit einem Buchstaben unterlegte Kennzeichnung übersetzt wird. Hier entscheidet der  Ballaststoffanteil also endlich mit darüber, ob ein Lebensmittel als gesund oder ungesund angesehen wird. Allerdings ist die Berechnungsmethode etwas problematisch.

Abb. 1: Der NUTRI-SCORE auf einer Lebensmittelverpackung

Da der NUTRI-SCORE eine freiwillige Kennzeichnung ist, wird er nicht von allen Herstellern verwendet. Private Websites versuchen daher, diese Informationslücke zu schließen, indem sie die entsprechenden Berechnungen für nicht gekennzeichnete Lebensmittel selbst vornehmen. Da der Anteil der Ballaststoffe bei den Nährwertangaben meist fehlt, werden dabei häufig Schätzwerte verwendet. Das wiederum sorgt bei Herstellern für Unmut, die den NUTRI-SCORE ihrer Produkte mit den korrekten – aber nicht ausgewiesenen – Ballaststoffwerten berechnen und dabei zu besseren Einstufungen kommen.

Eine weitere Randnotiz des Kennzeichnungs-Wahnsinns: Bei der NUTRI-SCORE-Berechnung werden Ballaststoffe lediglich bis zu einer Obergrenze von 4,7g pro 100g berücksichtigt – ­obwohl natürlich zahlreiche Produkte deutlich mehr Ballaststoffe enthalten. Hintergrund für diese Methode sind möglicherweise die französischen Verzehrgewohnheiten, bei denen ballaststoffreiche Produkte kaum eine Rolle spielen.

 

Das verzerrte Vollkorn-Image

Eine Umfrage aus Deutschland wollte herausfinden, welches Gesundheits-Image bestimmte  Lebensmittel haben. Auf die offene Frage, was für sie gesunde Produkte sind, nannten die Befragten Obst und Gemüse mit Abstand am häufigsten (s. Abb. 2). Vollkornbrot rangiert dagegen auf Platz 6 und Vollkornprodukte erreichten sogar nur Platz 13.

Abb. 2: Was sind für Sie gesunde Produkte?

Auf die offene Frage, was die Befragten unter einer vitaminreichen Ernährung verstehen (s. Abb. 3), spielt Vollkornbrot, das von Natur aus reich an B-Vitaminen ist, dann überhaupt keine Rolle mehr. An erster Stelle werden Früchte genannt und an zweiter Stelle Gemüse.

Abb. 3.: Was verstehen Sie unter einer vitaminreichen Ernährung?

Vollkornbrot rutscht erst dann an die erste Stelle, wenn explizit nach der gesunden Wirkung von Ballaststoffen gefragt wird (Abb. 4): „Welche Produkte sind gesund, weil sie reich an Ballaststoffen sind?“ Auf diese Frage landen Vollkornbrot/Schwarzbrot und Vollkornprodukte auf den ersten beiden Plätzen.

Abb. 4.: Gesunde Produkte sind gesund, weil … (Trefferliste der Begründungen)

Anhand dieser Ergebnisse kann man erkennen, welche Eigenschaften bestimmten Lebensmitteln zugeschrieben werden (s. Abb. 5).

Abb. 5: Laddering von Nahrungsmittelzutaten bzgl. deren Eigenschaften und deren Nutzen

Obst und Gemüse sind reich an Vitaminen und deshalb gesund. Getreide und Brot – hier insbesondere Vollkornbrot – sind reich an Ballaststoffen und die sind gut für die Verdauung. Damit hat Getreide durchaus auch eine gesundheitliche Relevanz, aber die ist beschränkt auf das etwas unappetitliche Thema des Darms. Während Vitamine für proaktive Gesundheit stehen, sind Ballaststoffe eher im therapeutischen Einsatz: Sie werden immer erst dann wichtig, wenn es mit der Verdauung nicht so gut klappt.

 

Obst und Gemüse: nur eine Marketing-Idee?

Auch jenseits der Verdauung haben Ballaststoffe einen vielfältigen gesundheitlichen Nutzen. Das hat die „European Prospective Investigation in Cancer and Nutrition“ (EPIC-Studie) eindrucksvoll bewiesen. In einer der größten Studien weltweit wurden dabei mehr als eine halbe Million Teilnehmer aus zehn europäischen Ländern fast 15 Jahre lang begleitet (http://epic.iarc.fr/). Was die EPIC-Studie auszeichnet, ist nicht nur ihre schiere Größe, sondern auch ihre hohe methodische Qualität. Sie hat nur ein Problem: Ihre sensationellen Forschungsergebnisse wurden leider nur unzureichend kommuniziert – vielleicht auch, weil sie vielen gelernten Vorurteilen widersprachen.

Beispielsweise wurde nachgewiesen, dass eine Steigerung des durchschnittlichen Obst- und Gemüseverzehrs um 150g pro Tag lediglich 2,5% aller Krebsfälle verhindern würde. Und selbst dieser kleine Effekt war limitiert auf ‘schwere Raucher und Trinker‘, die große Mengen an Obst und Gemüse verzehrten. Für die Allgemeinheit konnte man keinen vergleichbaren Zusammenhang feststellen.[1] Dieses Ergebnis war deshalb so überraschend, weil die bis dahin berühmteste Studie zu Krebs und Ernährungsfaktoren von Doll und Peto[2] (1981) zu dem Schluss gekommen war, dass geschätzte 35% aller Krebstodesfälle durch eine Änderung der Ernährung vermeidbar seien (Abb.  6).

Abb. 6: Prozentualer Anteil verschiedener Ursachen der Krebssterblichkeit, nach Doll und Peto

Welche Nahrungsfaktoren für die Krebsentstehung verantwortlich sind, konnten Doll und Peto nicht mit Sicherheit klären. Es sprach aber vieles dafür, dass eine obst- und gemüsearme, fettreiche, überkalorische Kost tumorfördernd wirkt. Weltweit wurden die Erkenntnisse von Doll und Peto so interpretiert, dass eine Steigerung des Obst- und Gemüseverzehrs empfohlen werden sollte.

Anschließend wurde in den USA und in Europa die so genannte „5-am-Tag“-Kampagne gestartet (Abb. 7). Die größte gesundheitsbezogene Kampagne des letzten Jahrhunderts sollte den Verzehr von Gemüse und Obst erhöhen – in Deutschland von durchschnittlich 350g auf 650g pro Tag. Der Effekt war minimal: Weder wurde die Steigerung des Obst- und Gemüseverzehrs auch nur ansatzweise erreicht, noch konnten irgendwelche gesundheitlichen Effekte erzielt werden. Das Fazit eines an der EPIC-Studie beteiligten Wissenschaftlers: „Die 5-am-Tag-Kampagne war also bzgl. Krebs nicht eine Gesundheitsmaßnahme, sondern eine Marketingidee mit ungewissem Ausgang.“[3]

Abb. 7: „5-am-Tag“-Kampagnen zur Steigerung des Obst- und Gemüseverzehrs

 

 

 

 

 

Der Irrtum der Ernährungswissenschaftler

Warum sich Ernährungswissenschaftler weltweit mehr Schutz vor Krebs von reichlichem Obst- und Gemüseverzehr versprochen hatten, erklärt der Ernährungsforscher Prof. Dr. Hans-Georg Joost, einer der EPIC-Forscher, in einem ZEIT-Interview:[4]

„Man hatte Anfang der neunziger Jahre nur die Ergebnisse von Fall-Kontroll-Studien. Hier wird eine Gruppe von Personen, die bereits eine Krebsdiagnose bekommen haben, verglichen mit einer gesunden Kontrollgruppe. Dieses Studien-Design bringt allerdings ein großes Problem mit sich: In der Kontrollgruppe machen nur besonders motivierte und gesundheitsbewusste Menschen mit. Wir haben also von vorne herein einen großen Unterschied, der nicht allein in der Krankheit besteht: Die Teilnehmer der Kontrollgruppe sind nicht nur gesünder, sondern auch gesundheitsbewusster als die der Fallgruppe. Und darauf sind alle, die an den großen Effekt einer obst- und gemüsereichen Ernährung glaubten, hereingefallen.

Die EPIC-Studie ist ganz anders angelegt. Hier wird die Gesundheit von Menschen, die zu Beginn alle keine Krebsdiagnose hatten, über Jahre verfolgt. Die Teilnehmer, die in dieser Zeit erkranken, und die, die gesund bleiben, sind also absolut vergleichbar. Solche prospektiven Studien haben aber den Nachteil, dass gerade für seltene Krankheiten viele Teilnehmer über einen sehr langen Zeitraum beobachtet werden müssen.“

 

Ballaststoffe senken Krebsrisiko

Und das wichtigste Ergebnis der EPIC-Studie? Kurz gesagt: Ein hoher Ballaststoffverzehr reduziert das Risiko für Dickdarmkrebs (Abb. 8). Die um Lebensstilfaktoren korrigierten Werte halbieren das Risiko bei einer Aufnahme von 40g Ballaststoffen am Tag ­– im Vergleich zu einer Aufnahme von 10g. Einen vergleichbar starken Effekt kann man selbst mit den besten Medikamenten nicht erreichen.

Abb. 8: Dickdarmkrebs: Risikoreduktion durch die Steigerung der Ballaststoffaufnahme[5]

EU verbietet Positiv-Aussagen

Leider dürfen die positiven EPIC-Erkenntnisse über Ballaststoffe von Lebensmittelherstellern nicht kommuniziert werden. Das untersagt die EU-Verordnung 1924/2006: Laut Artikel 4 dürfen Lebensmittelhersteller nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben zu Lebensmitteln nur dann verwenden, wenn diese auf einer Positivliste der EU aufgeführt sind und das betreffende Lebensmittel gleichzeitig einem vorgegebenen Nährwertprofil entspricht. Derzeit sind für Weizenkleie zwei Health Claims erlaubt:[6] „Weizenkleie trägt zur Beschleunigung der Darmpassage bei.“ und „Weizenkleie trägt zur Erhöhung des Stuhlvolumens bei.“[7] Zwei Aussagen, die inzwischen allgemein bekannt sein dürften und die eher ungeeignet sind, um auf Lebensmittelverpackungen gedruckt Lust und Appetit zu machen.

 

Der Weg zum neuen Image

Ballaststoffe und Kleie sind also mit dem Vorurteil belegt, in erster Linie die Darmpassage zu fördern. Sie aus dieser Denk-Schublade wieder herausholen, wird sehr viel Zeit erfordern. Um ein neues, positives Image für diese unterschätzten Nährstoffe zu entwickeln, ist ein völlig neuer Ansatz nötig. Dabei wird aller Erfahrung nach nicht die eine große und perfekte Innovation der Schlüssel zum Erfolg sein. Stattdessen wird eine derartige Image-Wende am ehesten durch das Zusammenwirken vieler kleiner Ideen gelingen. Dazu müssen unterschiedlichste Akteure das Thema neu denken, ihm Raum zur Entfaltung geben und möglichst viele prototypische Ansätze entwickeln. Möge der Bessere gewinnen!

 

 

[1] Boffeta et al., J Nat Cancer Inst 102: 529-537 (2010)

[2] Doll und Peto, J Nat Cancer Inst 66: 1191-11308 (1981)

[3] Hans-Georg Joost, DifE Potsdam-Rehbrücke, Potential der Ernährung in der Prävention von Krebserkrankungen und Typ-2-Diabetes, Vortrag an den Universität Hamburg am 13.12.2010

[4] https://www.zeit.de/wissen/2010-04/krebs-ernaehrung-obst

[5] Hans-Georg Joost, DifE Potsdam-Rehbrücke, Potential der Ernährung in der Prävention von Krebserkrankungen und Typ-2-Diabetes, Vortrag an den Universität Hamburg am 13.12.2010. Corrected: Werte wurden kalibriert auf Basis eines 24 Std.-Recalls in einer Fokusgruppe, d.h. Abgleich des angeblichen Verzehrverhaltens mit der Wirklichkeit.

[6] https://fet-ev.eu/tabellentool-health-claims/

[7] Die Bedingung für die Verwendung des Health Claims ist ein Lebensmittel, welches einen hohen Ballaststoffgehalt hat (= mindestens 6 g Ballaststoffe pro 100 g). Im Fall des Claims „trägt zur Beschleunigung der Darmpassage bei“ muss mit dem Lebensmittel eine tägliche Aufnahme von mindestens 10g Weizenkleie möglich sein.

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